steilberghoch

Ultracycling und Alpenpaesse

Bernina

Die über 8000 Höhenmeter in den letzten zwei Tagen haben mich etwas zweifeln lassen ob ich heute den Berninapass noch angehen soll. Immerhin muss ich danach noch sechs bis sieben Stunden mit dem Auto nach Hause fahren. Außerdem habe ich irgendein Problem im rechten Bein, gehen geht fast gar nicht. Aber meine „Pässegeilheit“ siegt dann doch über die kumulierte Erschöpfung und den möglichen Schmerz.

Nach dem Frühstück im Hotel und dem Checkout fahre ich mit dem Auto von Silvaplana durch St. Moritz bis zu meinem Startort Pontresina. Zum Beginn der Bernina-Nordauffahrt gibt es unterschiedliche Meinungen, man könnte auch von Samedan oder Schlarigna starten, aber obwohl es schon etwas bergauf geht erscheint mir Pontresina die logischere Wahl zu sein. Geser ist mit mir einer Meinung, und noch dazu gibt es eine gute Langzeitparkmöglichkeit.

Die brauche ich auch, denn selbst wenn ich auf der Nordseite schnell sein sollte, die Südseite ist mit über 33 Kilometern Länge und fast 1900 Höhenmetern eine echte Herausforderung. Da kommen zu einer Stunde Abfahrt möglicherweise nochmal zweieinhalb bis drei Stunden für die Auffahrt.

Die Wade macht nach wie vor Probleme beim Gehen, so eiere ich etwas zum Parkscheinautomat, aber ich will ja Radfahren und nicht zu Fuß laufen. Im Automat liegt dann tatsächlich schon ein bezahlter Parkschein bis 13:49 Uhr. Vielen Dank an den anonymen Spender, die 5 Franken werde ich in einen Cafe investieren und auf dich anstoßen.

Auf dem Rad ist dann mit dem Bein eigentlich alles ok. Aus dem Ort heraus biege ich gleich auf die Straße in Richtung Passhöhe. Die steigt auch sofort mit soliden 9% an.

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Zum Glück scheint die Form entgegen meiner Erwartung ganz gut zu sein, und so ist der erste steilere Abschnitt recht flott überwunden und die Straße flacht nun merklich ab. Es geht mit geringer Steigung, gefühlt flach, durch das Tal und zusammen mit dem schönen Wetter, bei noch angenehm kühlen Temperaturen unter 10° C, entfaltet sich ein echtes alpines Bergidyll.

Ein erster Blick auf vergletscherte Gipfel in der Ferne tut sich auf, dabei fährt man durch dieses herrliche, breite Tal. Das scheint eine echte Genussfahrt zu werden.

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Dann steigt die Straße aber wieder an und über eine kleine Kehrengruppe gewinnt man weiter an Höhe. An einem unproblematischen Bahnübergang kreuzt man die Schienen der räthischen Bahn. Weiter geht es mit Steigungen zwischen 7 und 9% bergauf, wobei man rechts jetzt einen recht spektakulären Blick auf den Morteratschgletscher hat.

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Die Straße bleibt steil, vielleicht wird sie doch schwerer zu fahren als gedacht? Ich überlege mir, dass ich vielleicht nur diese Seite fahre und es damit bewenden lasse auf der Passhöhe einen Cafe zu trinken. Heute will ich ja nur noch genießen und die sehr schwere Auffahrt von der anderen Seite wäre vielleicht doch zu viel.

Die Straße wird nun wieder flacher und parallel zu den Bahnschienen führt die Straße in Richtung Passhöhe. Kurze Zeit später fließt auch noch rechts das Wasser in Richtung Tal, die Strecke ist einfach traumhaft!

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Wieder kreuzen die Schienen die Straße, diesmal in etwas unschönerem, flachen Winkel, so dass man durchaus konzentriert darüber fahren sollte. Auch danach ist die Steigung noch sehr gering, so dass ich fast flach bis zu den Seilbahnstationen fahren kann.

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Jetzt gibt es einen leichten Gegenwind und die Steigung zieht etwas an. Vorbei an schneebedeckten Gipfeln, unterhalb der Straße die Wiesen und die Bahn, die Fahrbahn windet sich sanft nach oben, idyllischer geht es kaum.

So nehme ich die Höhenmeter auch kaum war. Erst als auch nach der nächsten und übernächsten Kurve die Steigung nicht nachlässt, melden die Beine Anstrengung ans Gehirn. Es sind nur noch wenige Kilometer, aber nun habe ich auch wieder das Gefühl einen Alpenpass hochzufahren. Das Passhospiz kommt endlich in Sicht, aber die Passhöhe liegt noch ein paar Höhenmeter darüber. Aber die letzten Meter gehen natürlich eher leicht, und so bin ich nach fast genau 45 Minuten oben angelangt.

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Eine herrliche Auffahrt. Ich fotografiere mein Rad am Passschild, ziehe die Jacke an und begebe mich in die Abfahrt. Dass ich es vielleicht bei der Nordauffahrt belassen wollte habe ich komplett vergessen. Es fällt mir erst auf, als ich schon die ersten Serpentinen und einen Fotostopp hinter mir habe.

Im Gegensatz zu einigen Beschreibungen im Netz oder in den entsprechenden Büchern ist die Südseite nämlich sehr schön. Allein der Blick hinunter auf den ersten Teil der Abfahrt ist schon traumhaft.

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Nach einem Serpentinenteil führt die Straße kurvenarm durch’s Tal um dann wieder in einen kurvigeren Abschnitt überzugehen. Genau an der ersten Kurve dann ein kurzer Schockmoment. Ein Motorradfahrer überholt zwei Autos und hat die Chance auf Gegenverkehr offensichtlich ignoriert oder meine Geschwindigkeit falsch eingeschätzt. Zwischen uns passen genau 5mm, dabei fahre ich schon ganz rechts. Es zischt mit 100 km/h an mir vorbei. Mein erster Gedanke ist, verdammt das war knapp, ein paar Zentimeter und ich wäre zerschellt wie eine Porzellanvase, mein zweiter Gedanke ist, dass ich ihn vom Motorrad ziehen und verprügeln möchte.

Aber es ist nix passiert und nach einer halben Minuten ärgern ist es vergessen. Ich genieße weiter die abfallende Straße mit angenehmer Kurvenführung und, bis auf eine knapp 2 Kilometer lange Baustelle, gutem Straßenbelag.

Ein bisschen habe ich schon im Hinterkopf, dass ich nachher hier auch wieder hoch muss, aber die Freude an der Abfahrt überwiegt.

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Jetzt kommt ein längerer sehr flacher Abschnitt. Ich bleibe kurz stehen und ziehe die Jacke aus, es ist jetzt doch schon recht warm. Auf dem Rad versuche ich dann wieder Tempo aufzunehmen, denn nach der Abfahrt muss ich ja noch ca. drei Stunden bergauf fahren.

Gefährlich dabei ist, dass die Bahnschienen, die Teils auf der Straße verlaufen, diese auch zweimal in gaaanz flachem Winkel schneiden. Man muss fast stehen bleiben und die Straße quer Kreuzen um in vernünftigem Winkel über die Schienen zu fahren. Wirklich saugefährlich. Weder bei quaeldich.de noch im Buch vom Geser ist das erwähnt. DAS wäre mal eine wichtige Info gewesen!

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Anyway, nach einem See geht es wieder ordentlich bergab. Durch mehrere Dörfer hindurch, vorbei an zwei Baustellen, über die Grenze hinein nach Italien und schließlich zum Kilometer Null der Passauffahrt am Kreisel in Tirano.

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Eine wirklich schöne Abfahrt. Jetzt mache ich erst mal Pause. Am Kreisel ist auch ein Piazza. Hier am Platz ist lebhaftes Treiben, und nette Cafes neben der Kirche laden zum Cappuccino sein. Es ist mittlerweile richtig heiß, über 30° C.

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Ich gönne mir ein Stück Apfeltarte und den besagten Cappuccino, außerdem kaufe ich mir noch einen halben Liter Wasser, alles zu italienisch günstigen Preisen. Mit dem Wasser fülle ich die eine Flasche, die ich überhaupt nur angerührt hatte auf, und stecke die Wasserflasche mit dem Rest noch ins Trikot. Denn jetzt geht es bei großer Hitze über dreißig Kilometer steil berghoch. Und das mit den beiden gestrigen harten Tagen in den Beinen.

Gleich aus dem Ort heraus steigt die Straße an, und schon am Ortsausgang erreicht sie so ca. 9%, was dann auch erst mal so bleibt. Als Ziel habe ich mir erst mal den Lago di Posciavo vorgenommen, denn ab dort wird es eine Weile sehr flach.

Es ist wirklich sehr heiß aber die Beine funktionieren gut. Erstaunlich gut. Ich kann momentan die Leistung besser abrufen als heute morgen. Ein bisschen hatte ich ja befürchtet, mir könnte es ergehen wie gestern am Malojapass. Aber es ist auch noch sehr lange bis zum Schlussanstieg und der hat es in sich.

Es geht durch einige Dörfer, vorbei an den Zollstationen der Italiener und der Schweizer, durch die erste Baustelle und auch über die ersten, kreuzenden Schienen. Die Autofahrer checken es nicht, dass ich hier die Schienen steil anfahren muss, ein Porsche 911 Cabrio fährt mich fast um. Man so schwer kann das doch nicht zu verstehen sein! Vielleicht sollte ich besser einfach drüber springen. Kann aber auch mal schief gehen, da gibt es ja einige schöne YouTube Videos 😉

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Anyway, obwohl sich der Anstieg etwas zieht, und der Verkehr sehr lebhaft ist, erreiche ich noch recht fit den See und kann etwas Tempo auf der nun recht flachen Straße aufnehmen. Vom Wind her ging’s bis jetzt eigentlich. Dafür ist es immer noch sehr warm. Das Thermometer fällt nicht so richtig weit unter die 30er Marke.

Zweimal muss ich die Schienen noch kreuzen, einmal recht unvermittelt, weil einfach die Straße und meine Spur aufhört und in den Bahndamm übergeht. Dann kann ich mich aber auf das Bergauffahren konzentrieren.

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Bis Poschiavo bleibt die Steigung sehr moderat, dann zieht sie an. Und zwar wieder auf Werte von ca. 9%. Mal eine Spur weniger, mal eine Spur mehr. Zum Glück führt die Strecke jetzt zum Teil durch Schatten und es gibt einen Hauch Gegenwind, der etwas kühlenden Effekt hat.

Die Beine sind noch gut, doch ich habe großen Respekt vor der Länge der Strecke bis zur Passhöhe und vor allem der recht konstanten Steigung die nun kaum nochmal nachgeben wird. Es geht über weite Strecken nur leicht kurvig voran, man kann schön vor sich hin kurbeln. Und vor sich hin kurbeln. Und vor sich hin kurbeln.

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Es gibt keine Ortschaften mehr, aber vereinzelt Häuser unterhalb der Straße, tiefer im Tal. Und auch noch eines an der Straße. Ab dort führt die Straße dann in einen Serpentinenteil. Die Steigung bleibt um 9% mit leichten Spitzen nach oben.

Da man jetzt praktisch am Ende des Tals fährt hat man einen schönen Blick zurück. Dann fährt man aber weiter in den Wald hinein, und nur in den Kurven gibt es kurze Aussichten nach unten.

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Ich habe jetzt schon die Baustelle erreicht. Etwas mehr als 25 Kilometer Aufstieg liegen hinter mir. Dafür fühle ich mich immer noch gut. Vielleicht wird es doch eine brauchbare Zeit so eher bei gut 2,5 Stunden denn bei 3.

Die Baustelle habe ich jetzt hinter mir und die Straße wird wieder gerader mit nur leichten Kurven. Die Steigung gibt dabei aber weniger nach als ich mir gewünscht hätte. Aber die Beine funktionieren und die Temperatur liegt jetzt nur noch bei gut 24° C. Der Schlussanstieg lässt sich schon erahnen. Es wird aber nochmal etwas steiler. Soo einfach gibt der Bernina seine Passhöhe nicht her.

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Dann erreiche ich aber den Abzweig nach Livigno. Auf der Abfahrt hatte ich ein paar andere Rennradfahrer gesehen, und sogar zwei Fahrer mit Falträdern. Gerne versuche ich die dann nach der Pause in der Auffahrt wieder einzuholen, was natürlich nur funktioniert wenn sie nicht zu schnell sind. Bis jetzt habe ich aber keinen Radfahrer mehr gesehen, die waren wohl alle schon zu weit oben.

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Jetzt gilt es ein paar Serpentinen zu überwinden. Mittlerweile habe ich doch ganz ordentlich Gegenwind, allerdings ist er gar nicht so unangenehm, weil er Kühlung bringt. Ich kann zwar ahnen wo die Passhöhe ist, aber es sind noch einige Höhenmeter zu „fressen“. Immer wieder eröffnet sich nach einer Kurve die nächste Serpentinenfolge. Und dann die nächste. So weit kann die Passhöhe doch nicht mehr sein?

Nach einer weiteren Kurve sehe ich eine Rennradlerin, die ich mir als Motivationsziel nehme. Die ist auch rasch eingeholt.

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Nach der nächsten Kehre öffnet sich ein wunderbarer Blick auf die schneebedeckten Gipfel, die Passhöhe naht.

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Da taucht ein Faltradfahrer vor mir auf. Auch der ist relativ flott eingeholt. Wäre auch schlimm wenn nicht… Und dann noch zwei Kurven, und da ist die Passhöhe.

Ein toller Anstieg! Landschaftlich und auch vom Schwierigkeitsgrad. Mit 2:21 h habe ich mich noch ganz gut geschlagen und jetzt über 10500 Höhenmeter in drei Tagen gesammelt. Schade, dass man dafür keine Flugmeilen bekommt, das hätte sich gelohnt.

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Nach dem Passschildfoto, das der etwas humorlose Faltradfahrer macht, fahre ich direkt hinunter nach Pontresino. Die Abfahrt ist klasse, der Bernina ist einfach ein Traumpass auf beiden Seiten!

Glücklich und zufrieden nach 25 Minuten unten angekommen werfe ich mein Rad ins Auto, ziehe mich um und fahre dann mit dem Auto wieder hinauf zum Bernina Hospiz um da noch einen Salat zu essen und meine letzten Franken „draufzuhauen“. Was für ein spektakulärer Radtag. „So muss Radfahren!“

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