Nach zwei Stunden werde ich geweckt. Die Situation ist mir schnell wieder bewusst und ich „horche“ in mein Bein hinein. Was ich „höre“ klingt nicht gut. Ich glaube, es hat sich nicht geändert. Mal sehen wie es auf dem Rad läuft.
Es zeigt sich schnell, es läuft nicht gut. Ich bin tatsächlich in der gleichen Situation wie 2014 nur diesmal mit dem anderen Bein. Das Team realisiert noch nicht, wie ernst die Situation ist. Die sind wohl der Meinung ich habe eine mentale Schwächephase. Meike schlägt zwar eine TLA vor, wohl aber auch eher weil sie sich eine positive Wirkung auf meine Psyche davon verspricht.
Ich fahre jetzt erst mal weiter und sehe zu, wie ich weiterkomme. Da das Problem diesmal ja erst nach den Bergen auftritt, hoffe ich mich mit etwas Rückenwindunterstützung bis zur nächsten Timestation erst mal durchzumogeln.
Rückenwind kann ich aber vergessen. Im Gegenteil, das Wetter ist schlechter geworden und der Wind kommt von schräg vorne manchmal sogar frontal. Das hilft mir natürlich nicht dabei mich durchzumogeln, ich muss richtig reintreten kann aber eigentlich nicht.
Die medizinische Abteilung war der Meinung, dass meine Beine prinzipiell in Ordnung sind, ich solle also reinhauen und den Schmerz ignorieren. Geht aber nicht. Vielleicht bin ich zu weich, aber das ist kein Schmerz den ich gut handlen kann. Ich trete etwas schief und komme dementsprechend nicht wirklich vorwärts.
Das Wohnmobil ist zwei TS vorgefahren, denn bis zur TS 22 in Walsh sind es ja eh nicht mehr so viele Meilen. Mein rechtes Bein funktioniert aber nicht recht. Und ich quäle mich und die Followcarcrew, indem ich extrem langsam gegen den doch heftigen Wind fahre.
Saron ist vorgefahren, der ist wohl schon in Kansas und kommt in heftiges Unwetter. Wir spüren hier nur die Ausläufer, es bleibt trocken aber der Wind bläst heftig und die Wolken sind irgendwie dunkel, obwohl die Sonne ab und zu durchscheint. Ich muss irgendwann anhalten.
Aber das WoMo ist weit weg, hier gibt es nichts außer Feldern und der Straße. Dirk überredet mich weiterzufahren. Ich fahre mehr schlecht als recht. Mal geht es wieder ganz gut, dann ist es wirklich unangenehm, dann geht es wieder, aber Spaß macht das keinen. Ich komme auch nicht in so einen einbeinigen Rhythmus wie 2014. Meine Stimmung sinkt.
Eine Tornadowarnung für Kansas ist raus. Und obwohl ich gerade erst nach Kansas reinfahre spüre ich die Ausläufer des schlechten Wetters und fühle mich so „alleine“ draußen vor dem Followcar, sehr der Natur ausgesetzt. Ich glaube selten habe ich mich so verletzlich gefühlt auf dem Rad. Bei den Radreisen hatte ich eher das Gefühl unsterblich zu sein, jetzt gebe ich ein recht jämmerliches Bild ab. Außerdem muss ich mich ganz schön gegen den Wind lehnen um mich nicht umwehen zu lassen.
Aber mit Hilfe der Followcarcrew, die mein Jammern teils ignoriert, teils wegargumentiert, komme ich doch vorwärts. Dabei hilft mir ein Post von Benjamin, den man mir in der Nacht zuvor vorgelesen hatte. Er hatte Jack Dempsey zitiert, „ein Champion ist jemand der aufsteht wenn er nicht kann.“ In seinem Beitrag hat er mich als Champion bezeichnet was mir seltsam vorkam, aber jetzt muss ich dauernd daran denken. Ein Champion ist jemand der aufsteht wenn er nicht kann. Auf deutsch klingt das etwas eckig, aber englisch macht‘s Sinn. A Champion is someone who gets up when he can‘t. Genau das versuche ich, auch wenn es eigentlich nicht geht, ich will die TS 23 erreichen. Ich will aufstehen auch wenn es nicht geht. Das ist das RAAM, da ist mein Team, ich will auf keinen Fall, dass irgendeiner von den zehn nicht freudestrahlend in Annapolis ankommt. Ich will aufstehen wenn es nicht geht. Ich will zumindest kämpfen wie ein Champion, ob ich einer werde oder bin sei mal dahingestellt.
Es dauert weit über sechs Stunden aber ich komme in Ulysess an. Ich bin froh, dass ich das geschafft habe, aber was für ein Scheiß, es ist tatsächlich wie 2014, so kann ich nur noch auf ankommen fahren und das wird kaum klappen, die Bedingungen sind viel schlechter als vor drei Jahren, der Wind steht gegen uns und tut das schon seit dem Start, so dass wir auch keine Reserve haben. Ich muss mich entscheiden, vielleicht sollte ich doch meine Phobie vor „Pieksern“ überwinden und mich von Meike behandeln lassen.
Das Team glaubt anscheinend, dass ich mental am Ende bin und aufgeben will, aber davon bin ich weit entfernt. Ich bin stehengeblieben weil ich Schmerzen hatte mit denen ich nicht umgehen kann, nicht weil ich mental am Ende bin. Ich fühle mich jämmerlich weil ich das Gefühl habe, dass ich wieder nicht zeigen kann was ich eigentlich körperlich drauf habe, wenn mal beide Knie funktionieren. Ich bin aber Lichtjahre davon weg aufzugeben, ich fahre bis ich umfalle und so lange wir Annapolis, auch nur theoretisch, noch rechtzeitig erreichen können, bleibe ich auf dem Rad.
Ich versuche das zu vermitteln, habe aber das Gefühl, ich dringe nicht durch. Die Physios behaupten meine Beine sind super, da wäre im Prinzip alles in Ordnung, ich könne reintreten und es kann nix passieren. Im Prinzip sagen die ich soll mich nicht so anstellen, so schlimm kann der Schmerz nicht sein. Ich komme mir vor wie das klassische Weichei, das bei jedem Zwicken jammert. Aber eigentlich weiß ich, dass es nicht so ist. Ich kann das Bein so nicht dauerhaft gut kontrollieren.
Meike hat nochmal die Listen der WADA, die auch für das RAAM gelten gecheckt. Die mögliche Behandlung ist nicht nur nicht verboten, sondern steht sogar explizit auf der Liste der erlaubten Behandlungen. Ich ziere mich trotzdem noch etwas aber eigentlich will ich nur endlich ohne Schmerzen radfahren, vor allem ohne DIESE Schmerzen.
Ich bin wie gesagt etwas hysterisch was Spritzen betrifft, selbst wenn es nur unter die Haut geht. Aber mir ist jetzt alles egal. Meike findet recht schnell die schmerzhaftesten Stellen und behandelt diese mit therapeutisch lokaler Anästhesie. Außerdem bekomme ich eine Ibuprofen Tablette. Natürlich sackt mein Kreislauf ein bisschen weg, ich bin ja schon bei Thetanusspritzen ohnnmächtig geworden… Aber eigentlich halte ich mich noch ganz gut. Allerdings amüsiert sich die Crew köstlich, etwas blass und abwesend muss ich wohl doch kurz geworden sein.
Anyway, nach einem Forticreme Pudding und einem halben Becher Salzwasser geht es wieder auf‘s Rad. Erst mal fühlt es sich seltsam an, dann wird es besser und schließlich fühlt sich das Bein richtig normal an. So beschwerdefrei bin ich schon lange nicht mehr gefahren.
Und automatisch funktioniert auch der Kopf wieder richtig gut und das Tempo kommt zurück. Ich werd‘ verrückt, die Behandlung hilft wirklich. Auf dem Auto sitzen jetzt Rebecca und Christian, vorsichtshalber die doppelte Physiobesetzung.
Wir fahren nun ins Morgengrauen, das Wetter hat sich gebessert, der Himmel ist so wie er nur in Kansas erscheint, schön und leicht bedrohlich aber doch freundlich – paradox. Die Straßen und Felder scheinen in alle vier Himmelsrichtungen leicht bergauf zu gehen. Ich fange an wieder Spaß zu finden am Fahren.
Aus dem Followcar liest man mir Emails und Facebookposts vor, einige sehr berührend. Ich habe nicht gewusst, dass es doch einige Leser des Blogs gibt, die sich davon inspirieren lassen für eigene Unternehmungen oder einfach dafür sich wieder mehr zu bewegen und Sport zu machen. Arbeitskolleginnen und Freunde schreiben, teils auführliche, anfeuernde Kommentare und Emails. Außerdem hat Richie mir einen Song geschickt. Ich bin neugierig und bekomme ihn vorgespielt. Zwar habe ich keine Lautsprecher am Followcar, da ich ohne Musikberieselung fahre und die Kohle und den Aufwand gespart habe, aber über das Bluetooth Funksystem bekomme ich den Song mono auf das rechte Ohr gespielt. Und obwohl natürlich wenig high fidelity ankommt, wird die ganze emotionale Tiefe des Songs trotzdem transportiert. Es ist „horse with no name“ von America. Mir ist klar, dass er wahrscheinlich passend zur Wüstendurchquerung schon vor einiger Zeit geschickt wurde, aber die etwas mystische, sehnsüchtige Stimmung des Songs passt perfekt zur Morgendämmerung hier in Kansas.
Traumhaft, was für ein fantastischer Moment. So wohldosiert eingesetzt kann ich wirklich Kraft und Motivation aus der Musik ziehen. Genauso wie aus den Zuschriften und Anfeuerungen die mich erreichen.
Im Laufe des Streckenabschnitts lerne ich auch noch recht coole österreichische Musik kennen. Christian macht das „Radioprogramm“ am Mikro.
So komme ich gut vorwärts und fahre an TS 24 vorbei, auch die TS 25 fahre ich weiter. Landschaftlich ändert sich wenig. Felder und Getreidesilos. Der Wind steht noch immer etwas schräg gegen uns, ist aber nur schwach. Gegen Ende merke ich, wie die Wirkung der Behandlung nachlässt und die Schmerzen ins rechte Bein zurückkommen. So ca. sechs Stunden scheint das zu halten, die restlichen zwei Stunden fahre ich wieder etwas gegen das Bein, ich versuche zu beherzigen was Christian und Rebecca gesagt haben, aber gegen Ende wird der Schmerz schon heftig.
Allerdings bekomme ich nochmal Motivation von Meike und Saron. Wir passieren nämlich den „Halfway point“, d.h. exakt die Hälfte der zu absolvierenden Strecke liegt jetzt hinter uns. Wenn man es positiv formuliert. Man kann natürlich auch sagen, dass man das gleiche nochmal machen muss, was man bis jetzt gefahren ist, dann klingt es eher erschreckend… Aber das spielt jetzt keine Rolle. Meike hält das Halfwaypointschild hoch, Saron macht Fotos und filmt und ich freue mich ungemein, dass die beiden für mich diesen markanten Punkt feiern. In 2014 hatten wir nie die Gelegenheit für solche Dinge, und so symbolisiert das für mich, dass es viel besser läuft als 2017. Was für ein Unterschied zur Stimmung im letzten Abschnitt!
Dann ist aber auch endlich TS 26 Pratt erreicht. Hier bekomme ich eine Luxusbehandlung, alle drei Physios arbeiten an mir, Bein links, Bein rechts, Nacken. Wir haben endlich Gelegenheit die Massageliege zu nutzen. Ich werde auch noch mit Rührei, Forticreme und Getränken gefüttert. Natürlich schlafe ich nach einer Minute ein.
Ich mache einen Powernap von 20 Minuten und nach einer weiteren Behandlung für‘s rechte Bein von Meike geht es wieder auf‘s Rad. Der nächste Abschnitt ist mit mehr als 76 Meilen recht lange, ist aber eigentlich ganz gut zu fahren. Ganz schmerzfrei bin ich diesmal nicht, aber es ist immerhin so, dass ich einigermaßen gut mit leben kann.
Die Navigation ist extrem übersichtlich, fast vierzig Meilen geradeaus, links, rechts, dreißig Meilen geradeaus, links, rechts, und wieder geradeaus. Die Temperaturen sind ok. Aber Kansas ist halt unglaublich lang. Man fährt lange Geraden und wieder lange Geraden und noch eine, und wenn man die Timestation erreicht geht es einfach nur genauso weiter zur nächsten Timestation. So auch diesmal.
Christian hat übers Web Erkundigungen zum Wind eingezogen. Die letzten Meilen stand der Wind endlich mal richtig gut. Und so ist es auch klar, dass ich auf jeden Fall weiter fahre um den guten Wind zu nutzen.
An der TS 23 war Brian Toone noch vor mir und Tom McKenna recht dicht dran, an der 24 hatte ich Brian Toone wieder überholt. Die Reihenfolge ist dann erst mal gleich geblieben, d.h. Strasser und Grüner vorne, dahinter Baloh und Pattinson, dann kommen wir. Das was ich durch die Geschichte mit dem Bein verloren habe muss ich natürlich erst mal wieder aufholen, ich mache mir allerdings noch keine Gedanken um die vor mir, vor dem Mississippi werde ich nicht auf die anderen Fahrer schauen.
So lege ich Kilometer um Kilometer, bzw. Meile um Meile zurück und am Abend erreichen wir El Dorado. Ich fühle mich noch ganz brauchbar, und auch der Wind steht noch gut, so fahre ich weiter, es geht jetzt tatsächlich etwas berghoch und das Ziel ist es die Steigung noch zu schaffen, dementsprechend fährt das WoMo vor.
Vor Rosalia hält mich plötzlich ein Official an. Es ist noch hell und mein Frontlicht ist ausgegangen und ich habe es nicht bemerkt. Der Official aber schon. Aber es gibt keine Strafe, sondern nur einen Hinweis. Wir tauschen den Akku und der Official ist zufrieden. Hat uns ein paar Minuten gekostet, aber der Tausch ging flott und den Beinen hat es durchaus gut getan. Die letzten Meilen bis zum höchsten Punkt ziehen sich dann etwas und ich bin auch schon ganz schön platt. Wir fahren in die Dämmerung hinein und es geht bergauf. Der Wind hat etwas zugenommen bzw. fegt etwas über den Hügel.
Ich kann es nicht erwarten endlich das Wohnmobil zu erreichen, das nicht an einer TS parkt, sondern irgendwo an der Strecke in einem Seitenweg. Es ist schön und quälend zugleich. Aber ich brauche jetzt doch die Schlafpause. Und dann ist es endlich erreicht. Das rechte Bein hat sich teilweise, vor allem gegen Ende durchaus heftig bemerkbar gemacht. Aber immer noch so, dass ich „problemlos“ dagegen ankämpfen konnte.
So komme ich eigentlich ganz zufrieden an und freue mich sehr auf meine angesetzte zweistündige Schlafpause! Es gibt Obst und Rührei, Salzwasser und während die Beine behandelt werden schlafe ich ein.
Die Crew kann derweil den fantastischen Sternenhimmel in der lichtarmen Einsamkeit von Kansas genießen.