Heute habe ich eine Menge über die Alpen gelernt, und dass man hier keine Späße macht weiß ich jetzt auch. Ich hoffe nur, ich habe für meine Lehrstunde nicht zu teuer bezahlt.
Da ich dem Verkehr und den Motorradfahrern aus dem Weg gehen will, bin ich schon um ca. 6 Uhr morgens gestartet. Frühstück gab’s da natürlich noch keins, so dass ich gestern eine Schale Müsli und zwei Madelaines und etwas Apfelmus auf’s Zimmer bekommen habe.
Es regnet in Strömen, aber wenn Regen mich vom Fahrradfahren abhalten würde, wäre ich in Irland sicher nicht weit gekommen. Also geht es erst mal die Abfahrt hinunter von Arc1600 nach Bourg St. Maurice.
Nach wenigen hundert Metern bin ich komplett durchnässt, und nach fünf Kilometern hat es auch die Füße erwischt, trotz Neopren Überschuhen. Und da es nur 6° C hat, wird es auch sehr schnell kalt. Dummerweise habe ich meine langen Handschuhe vergessen, und da die kurzen eh nur nass werden fahre ich komplett ohne.
Als ich nach ca. 15 Kilometern Abfahrt unten ankomme bin ich so kalt und durchnässt, dass ich völlig fertig bin, ohne dass ich auch nur einen vernünftigen Pedaltritt gemacht habe.
So freue ich mich als es endlich eine 5% Steigung nach Seez gibt. Das Wetter ist wirklich fies, aber die Radsportbegeisterung der Franzosen drückt sich auch dadurch aus, dass ein Fußgänger mich anfeuert, als ich zum Col de l’Iseran abbiege, statt zu denken „was macht der Spinner den da bei dem Wetter morgens um sechs“.
Am Ortschild Seez geht’s los, 45 Kilometer bergauf, zum (zweit)höchsten befahrbaren Alpenpass. Zunächst kann man sich von hier locker einfahren, da es relativ flach ist, und teilweise gar bergab geht.
Manchmal hört es etwas auf zu regnen, und obwohl es dann zunächst deutlich steiler wird, läuft es gut. Um meinen Rücken zu schonen, wechsle ich ab und zu in den Wiegetritt, schließlich habe ich am Stilfser Joch auch was gelernt…
Der Unterschied zum Stilfser Joch ist, dass es hier ab und zu etwas weniger steile Passagen gibt, an denen man sich erholen kann. So arbeite ich mich ganz gut voran, und auch wenn die Wolken sehr tief hängen, und die Gipfel nicht zu sehen sind, so ist es doch ein fantastisches Gefühl durch diese Alpenwelt zu fahren. So stören mich auch die kalten Hände und Füße nicht so sehr, ich versuche halt immer wieder die Finger und Zehen zu bewegen, um ein bisschen Leben da hinein zu bringen.
Nach einigen Lawinengallerien und Tunnels erreiche ich schließlich Val d’Isere. Und was ich dahinter sehe ist zwar schön aber auch etwas erschreckend, die Schneegrenze ist nämlich ganz schön tief. Der Col de l’Iseran ist bekannt dafür, dass dort gerne auch mal im Sommer Schnee liegt. Ich hoffe natürlich, dass die Straße aber frei ist, schließlich ist der Pass ja auch geöffnet?!
Aus Val d’isere heraus geht es erst mal recht flach, so dass ich die Gelegenheit für einen Energieriegel und zum Trinken nutze. Dann geht es nach einer Kehre auf der anderen Seite des Tals am Hang ordentlich bergauf. Und hier treffe ich auf etwas mit dem ich gar nicht so richtig gerechnet hatte, nämlich heftigen Gegenwind. 8% und heftiger Gegenwind, da muss man auch schon mal bei 30/25 im Wiegetritt kämpfen um überhaupt vorwärts zu kommen.
Der Wind hat allerdings einen üblen Nebeneffekt, er kühlt die Hände runter wie bei einer Abfahrt. Da immer noch alles komplett nass ist werden die Hände so kalt, dass ich kaum noch was spüre. Ich versuche immer wieder eine Hand unter das Trikot zu stecken, aber das nutzt praktisch nichts. Ein vernünftiger Mensch wäre an dieser Stelle umgekehrt. Meine Beine und Kondition sind aber so gut, dass ich in diesem Moment nicht zu dieser Kategorie zähle.
Irgendwann erreiche ich dann die Schneefallgrenze, und da es ab und zu ein paar Kehren gibt, bin ich dem Wind nicht mehr so brutal ausgesetzt. Eigentlich beeindruckend hier zu fahren, und die Straße ist zunächst auch nur nass, so dass alles im grünen Bereich ist. Meine Schaltung scheint die niedrigen Temperaturen nicht so richtig zu mögen, aber immerhin kann ich hier überhaupt schalten, und muss nicht immer im kleinsten Gang fahren wie am Stilfser Joch. Im Gegenteil, in den Abschnitten weiter unten bin ich teils auf dem großen Kettenblatt gefahren, und auch hier brauche ich den 30/25 Rettungsring eher selten. Dann kommt wieder ein etwas steilerer Abschnitt, der meist deutlich zweistellig ist.
Als es noch so 10 Kilometer sind wird der Schnee etwas mehr, aber immer noch ist die Straße frei. Allerdings schneit es jetzt etwas mehr, und der Wind kommt böiger auch mal von der Seite. Irgenwann ist der erste wenige Schneematsch auf der Straße. Auch jetzt wäre es vernünftig gewesen umzukehren, aber es sind nur noch wenige Kilometer.
Der Schneematsch wird immer mehr, und schließlich kommt mir ein Autofahrer entgegen, der mir andeutet, dass ich nicht bis hoch fahren kann, sondern umkehren soll. Es sind noch so ca. fünf Kilometer, jetzt drehe ich nicht mehr um.
Dann kommt zu dem Schneematsch nach einer Kehre das schlimmste für einen Radfahrer, nämlich eine zarte Eisschicht. Spätestens jetzt hätte ich umdrehen müssen. Da das aber nur für ca. hundert Meter an einer Kuppe über die der Wind pfeift ist, fahre ich weiter. Mittlerweile mischt sich Schnee, und gefrorener Schnee auf der Straße und drei Kilometer vor der Passhöhe, kommt mir ein oranges Straßenarbeiter Fahrzeug entgegen. Der Wagen wird langsamer und will mir offensichtlich bedeuten umzukehren, aber ich grüße freundlich „bonjour“ und fahre weiter. Er denkt nur „der Idiot“ und lässt mich fahren. Jetzt wird’s wirklich happig, der Wind nimmt zu und ich muss aufpassen die Balance zu halten, gleichzeitig fahre ich durch feuchten Schnee, und muss auf das Eis aufpassen. Nur noch zwei Kilometer, meine Hände sind mittlerweile so kalt, dass ich ernsthaft Angst habe mir eine Erfrierung zu holen, und wie wild meine Hände bewege (ich denke so lange das möglich ist, kann nichts erfrieren).
Als ein Van von hinten an mir vorbei fährt, überlege ich kurz ob ich den anhalten soll, und frage ob ich mich fünf Minuten aufwärmen kann, aber der ist voll mit jungen Leuten, die schier ausrasten als sie mich durch den Schnee kämpfen sehen und alle zücken ihre Kameras um mich zu fotografieren.
An diesem Punkt muss ich einsehen, dass ich jetzt nicht mehr umkehren kann, denn runter fahren geht wegen Eis und Schnee nicht und wenn ich laufen muss gehts nicht ohne körperliche Versehrtheiten ab, das steht fest.
Ich beschließe mich nach oben zu kämpfen, in der Hoffnung dort ein Auto anhalten zu können, dass mich mit herunternimmt. Noch ein Kilometer. Schnee, Eis, minus 4 Grad, und heftiger Wind, der mir den Schnee waagerecht ins Gesicht peitscht. Völlig durchnässt und ohne Handschuhe. Entweder ist es mit das härteste was ich bis jetzt gemacht habe oder das dümmste. Ich kämpfe mich bis auf ca. 300 Meter an die Passhöhe heran, dann bläst mich der Wind einfach vom Fahrrad, und das Eis auf der Straße macht es unmöglich weiter zu fahren. Ich stehe am Straßenrand, der kleine Finger und der Ringfinger an beiden Händen sind nicht mehr zu spüren, alles ist so kalt, dass ich für einen Moment schlicht nicht weiß was ich machen soll.
Ich stehe einfach da, und irgendwann setze ich mich in Bewegung und laufe Richtung Passhöhe. Ich versuche das Fahrrad zu schieben, aber der Wind bläst es immer wieder zur Seite weg. Ich weiß, dass auf der Passhöhe nichts ist, kein Restaurant oder Souvenirladen in den ich mich flüchten könnte. Ich hoffe einfach nur, dass dort eine Schutzhütte ist, oder ein Auto vorbeifährt, dass ich anhalten kann. Aber die Autos werden ja unten schon zurückgeschickt.
Ich kann ungefähr erahnen, was so manche Bergsteiger durchmachen müssen, wenn sie von einem Wetterumschwung erwischt werden. Ich weiß auch, jetzt ist es Ernst! Hier geht es um meine Hände und wohl auch um den Rest, so laufe ich mit dem Fahrrad nach oben, als das orange Auto des Straßendienstes wieder an mir vorbeifährt, diesmal nach oben. Ich hoffe das der dort oben hält! Der Wind legt noch mal eins drauf, mittlerweile habe ich die Passhöhe und das dort stehende Haus, das leider unbewohnt und verschlossen ist, erreicht. Ich versuche irgendwo an dem Haus Schutz zu finden, aber irgendwie scheint der Wind von überall den Schnee auf mich zu peitschen, und mittlerweile bin ich so kalt, wie ich es mir bis vor wenigen Minuten nicht mal vorstellen konnte.
Innerhalb von Sekunden scheint mich dieser kalte Wind komplett in Eis zu verwandeln. Warum und vor allem wie ich oben trotzdem noch den Fahrradcomputer gestoppt habe weiß ich nicht. Der orange Wagen steht da, und ich versuche anzudeuten, dass ich mich wärmen muss. Der Fahrer hat das natürlich längst gecheckt und bedeutet mir einzusteigen, will aber, dass ich mein Fahrrad auf dem Pass stehen lasse.
Ich bleibe einfach draußen stehen. Vielleicht ist auch mein Gehirn eingefroren. Der Typ steigt aus, ich höre gar nicht was er sagt, dann geht er zu einem Schneepflug, der von der anderen Seite gekommen ist.
Ich nestle irgendwie ohne fühlbare Finger die Kamera aus dem Oberrohrtäschchen und fotografiere das. Ich suche das steinerne Pass-Schild, aber ich kann es schlicht nicht sehen, obwohl es nur ein paar Meter von mir Weg ist. Ich stelle mein Fahrrad an die Wand vom Haus, mir egal ob es weg fliegt, dann setze ich mich einfach ins Auto und versuche meine Hände irgendwie zum Leben zu erwecken.
Der Fahrer gestikuliert etwas, nimmt dann mein Fahrrad und packt es hinten rein, und steigt ein. Er deutet an, dass er mich etwas den Berg hinunter fährt, viel verstehe ich nicht, da er kein Englisch spricht und ich kein Französisch.
Er dreht die Heizung auf, und im Schritttempo arbeiten wir uns den Pass hinunter. Die Hände brauchen lange, aber sie kommen wieder. Ich friere wie wohl noch nie zuvor. Wir versuchen etwas zu reden, aber letztlich verstehen wir wenig von dem was der Andere sagt. Zwischendurch hält er immer wieder die entgegenkommenden Fahrzeuge an, um sie zurückzuschicken.
So ca. vier, fünf Kilometer vor Val d’Isere lässt er mich raus, denn jetzt sind wir unter der Schneefallgrenze, und es gibt auch keinen Schnee und kein Eis mehr auf der Straße. Ich bedanke mich überschwenglich, das Geld, das ich ihm anbiete lehnt er ab.
Ich beschließe in Val d’Isere etwas zu essen, doch die paar Kilometer bis dahin kühlen mich wieder so aus, dass ich auf dem Fahrrad anfange zu zittern, und zwar am ganzen Körper. So versuche ich mich dort in einem kleinen Cafe mit Cafe au lait aufzuwärmen, aber das Zittern hört nicht auf. Es regnet wieder in Strömen, und ich muss einsehen, dass ich nicht noch fast dreißig Kilometer bei diesen Bedingungen bergab fahren kann, ohne meine Gesundheit ernsthaft zu gefährden. Die 16 Kilometer hoch nach Arc1600 wären wahrscheinlich noch eher gegangen, denn die Beine sind nach wie vor gut.
Anyway, so schaffe ich es tatsächlich diesmal vernünftig zu sein und bestelle ein Taxi. Das kommt auch nach zehn Minuten, und soll zunächst 85 Euro kosten, nachdem wir festgestellt haben, dass der Fahrer mal als LKW Fahrer immer nach Deutschland zu Omniplast gefahren ist, wo ich mal gejobbt habe, gebe ich ihm was ich an Bargeld dabei habe, so ist er mit 80 Euro zufrieden.
Im Hotel angekommen, versuche ich mich mit heißem duschen und einem heißen Bad wieder aufzuwärmen, was auch ganz gut gelingt, allerdings nicht bei den Fingerkuppen, selbst jetzt nach über sieben Stunden sind die noch nicht wieder richtig da. So ein bisschen besorgt bin ich schon. Wie gesagt, ich hoffe ich muss hier kein teures Lehrgeld zahlen.
Ich weiß auch nicht ob ich mich ärgern soll, dass ich kein richtiges Finisherfoto, sondern nur eins vom Schneepflug auf der Passhöhe habe, oder ob ich stolz sein soll, dass ich mich gegen Wind, Steigung, Schnee und Eis durchgekämpft habe. (Immerhin trotz der fiesen Bedingungen und dem notgedrungenen Schieben (bzw. „Schleifen“) auf den letzten Metern in 3:04 Stunden)
Natürlich hätte ich gerne ein richtiges Foto bei Sonnenschein auf der Passhöhe, vor dem Schild. Vielleicht morgen nochmal, wenn das Wetter sich bessert? Ich habe mir jedenfalls vorsichtshalber in Bourg St. Maurice noch ein paar Handschuhe gekauft…
Da ich keine Gelegenheit zum Ausfahren hatte, gehe ich noch ein paar Meter vor dem Abendessen. Erstmals sind jetzt die Wolken größtenteils verzogen und die schneebedeckten Gipfel zeigen sich.
Von einem einheimischen Radfahrer erfahre ich, das die Straße frei sein wird, wenn morgen keine neuen Niederschläge kommen. Und das soll laut Wetterbericht nicht der Fall sein. Obwohl es wohl immer noch Minusgrade auf der Passhöhe haben wird, schmilzt der Schnee und das Eis, da der Fels wärmer ist als die Luft.
Also morgen doch noch mal eine Chance. Außerdem würde es meinen Fingerspitzen vielleicht gut tun, wenn ich den Puls nochmal richtig hoch treibe.