Samstag 05.09.2009
Da ich heute wirklich ausgeschlafen fahren will, nehme ich das Frühstück im Hotel noch mit, und sitze erst um halb neun auf dem Fahrrad.
Nach einigem Überlegen habe ich mich entschlossen den Umbrailpass, den ich gestern hinunter gefahren bin hoch zu fahren, dann nach Bormio runter, und von dort wieder hoch über das Stilfser Joch und die 48 Kehren hinunter zurück nach Prad.
Das werden auf jeden Fall über 3000 Höhenmeter, also erst mal schauen was die Form sagt. Wenn es nicht geht, kann ich immer noch den Umbrail wieder hinunter, oder mit weiteren 250 Höhenmetern über das Stilfser Joch direkt wieder zurück.
Im Pässebuch ist der Umbrail Pass als mittelschwer beschrieben, und sogar eine höhere Mindestübersetzung vorgeschlagen. Was für ein Schmarrn. Wie ich noch von gestern weiß, ist der ziemlich konstant im zweistelligen Bereich, außerdem gibt es einen unbefestigten Streckenabschnitt, mit ebenfalls Steigungen im zweistelligen Prozentbereich, was brauch’s denn noch um ein schwerer Pass zu sein? Das Argument „Länge“ gilt für mich heute sowieso nicht, denn ich starte in Prad, und muss dann natürlich die gestrige schöne Schlussabfahrt wieder hinauf.
So ergibt sich eine Strecke von ca. 33 Kilometern Richtung Passhöhe, deutlich länger also, als der Weg hoch von Prad direkt zum Stilfser Joch.
Anyway, als ich morgens aus dem Fenster schaue kann ich kaum glauben was ich sehe. Strahlend blauer Himmel, nicht ein Hauch einer Wolke. Ich beschließe die Regenhose und Regengamaschen nicht mitzunehmen, denn das wird ganz klar ein Tag mit Kaiserwetter.
Auf dem Fahrrad merke ich allerdings schnell, dass es trotz strahlendem Sonnenschein sehr kalt ist. So halte ich nach ein paar Kilometern und ziehe Handschuhe und Helmmütze an.
Die Strecke ist fantastisch, auch mit dem Verkehr geht’s und das tolle Wetter tut sein übriges. So arbeite ich mich von Prad über Glurns und Tubre über die Schweizer Grenze und Müstair bis nach Santa Maria. Die Steigung liegt meist so zwischen 6 und 8 Prozent, gerne aber auch mal bei 10 Prozent.
Alpenradfahren wie es sein muss.
Von Santa Maria könnte ich auch zum Ofenpass abzweigen, aber ich biege auf die steile Straße Richtung Umbrailpass ab, der gleich am Ortsschild beginnt.
Hier unten ist der Straßenbelag meist noch gut bis sehr gut, und so kurbele ich mich stetig nach oben.
Da der Pass morgens, bis zum unbefestigten Abschnitt fast komplett im Schatten liegt, ist es recht frisch.
Auf diesem Abschnitt passiert mir etwas, dass mir noch nie passiert ist, denn nach einiger Zeit sehe ich so immer eine Serpentine unter mir zwei Mountainbiker, die langsam näher kommen.
Bin ich so langsam?? Der Aufstieg ist zwar durchaus hart, und auch der gestrige Tag steckt noch in den Knochen, aber so schlimm ist es jetzt auch nicht. Ich versuche mein Tempo weiterzufahren, aber man fährt automatisch konzentrierter und vielleicht auch eine Spur schneller, wenn jemand von hinten näher kommt. Bis zum Beginn des ungeteerten Abschnitts kommen die beiden nicht ran, und auch dann dauert es noch einen Kilometer, aber schließlich werde ich überholt. Von Mountainbikern! Ich kann’s aber gelassen nehmen, denn die zwei legen wirklich ein gutes Tempo vor. Respekt.
Es war auch nicht der Traktionsvorteil der Mountainbikereifen auf der ungeteerten Strecke, denn auch mit dem Rennrad lässt diese sich gut bewältigen, vor allem heute, wo alles trocken ist. Es fühlt sich ein bisschen heroisch an mit dem Rennrad 10% Steigungen auf Schotter zu fahren, ganz so wie die Radsport Ikonen der Tour- und Girofrühzeit.
Ich merke jetzt schon die Länge der Steigung, und den hohen Anteil an Kilometern im zweistelligen Steigungsbereich. Ein paar Mountainbiker die ich aufsammeln kann verschaffen nochmal etwas Zusatzmotivation, die ist auch nötig. Zu meiner Genugtuung ist einer davon einer der Überholer. Der andere ist wahrscheinlich schon oben…
Da es nur ab und zu ein paar über- oder normalmotivierte Motorradfahrer gibt, ist es, wenn die vorbeigerauscht sind, insgesamt beeindruckend ruhig hier.
Auf dem oberen asphaltierten Teil beschließe ich auf keinen Fall nach Bormio runterzufahren, denn mir scheint für heute ist es irgendwie genug.
An diesem Gedanken arbeite ich sicherlich die letzte Viertelstunde der Auffahrt, als dann endlich das Passschild erreicht ist, ich mein Foto gemacht habe, kommt es mir nicht eine Sekunde in den Sinn NICHT nach Bormio zu fahren. Hm…, ich habe mich offenbar aus Motivationsgründen selbst angelogen.
Anyway, nachdem Knielinge, Regenjacke als Windschutz und Handschuhe angelegt sind geht es hinunter nach Bormio. Die Strecke ist wirklich sehenswert. Ein ganz anderer Charakter wie alle anderen Passtraßen, die ich bis jetzt gefahren bin. Trotz dem schönen Wetter sieht es, nachdem nach einer zunächst recht geraden Abfahrt das nächste Tal erreicht ist, irgendwie dunkel und fast bedrohlich aus.
Der Straßenbelag ist insgesamt nicht so schlecht wie vielfach beschrieben, und auch wenn ich die Ursache für mein „weiches Hinterrad“ nicht gefunden habe, so kann ich mittlerweile sehr gut damit umgehen, so das die Abfahrt Spaß macht. Nach 18,5 Kilometern und einer guten halben Stunde ist Bormio erreicht.
Bormio ist ein typisches italienisches Städtchen und unterscheidet sich damit doch sehr von Prad, das sowas typisch Südtirolisches hat. Nach etwas Suchen finde ich auch ein Cafe, wo es leckeres Essen gibt, und wo ich vor allem in der Sonne sitzen kann, aufwärmen, Klamotten trocknen, entspannen. Eine hübsche Bedienung gibt es noch obendrauf. Ich breite mein ganzes Repertoire an italienischen Vokabeln vor ihr aus. Sie spricht daraufhin englisch mit mir. Ok, ich sehe ein da ist noch Optimierungspotential…
Nach einer guten Stunde mache ich mich wieder auf den Weg hoch zur Passhöhe, Stilfser Joch von Bormio aus. Mal schauen was die Beine sagen. Ungefähr auf der Hälfte der Strecke gibt es einen Gasthof, den setzte ich mir als Teilziel, denn dass ich ganz bis oben hin ohne Pause durchziehe halte ich für unwahrscheinlich.
Auch von dieser Seite geht es ordentlich berghoch. Ich starte den Computer am Ortsschild, viele rechnen erst ab Passschild, daher habe ich einen knappen Kilometer zusätzlich.
Es ist anstrengend, aber insgesamt geht es eigentlich sehr gut. Die zweistelligen Prozente werden immer mal von 7 oder 8 Prozent abgelöst, was doch sehr hilft. Von unten sind insgesamt 40 Serpentinen zu fahren. Allerdings liegen die weit auseinander.
In den Gallerien und vor allem den Tunnels bin ich froh über mein Licht vorne und hinten. Auf der Abfahrt war es kein Problem, denn die Sicht darin ist trotz fehlender Tunnelbeleuchtung ausreichend, aber das Gesehenwerden hilft hier gerade berghoch, wo man so langsam ist, sehr. Denn die Tunnel sind extrem schmal, und ohne mein Frontlicht hätte mich ein entgegenkommender PKW wohl gegen die Wand gequetscht.
Nach der letzten Gallerie kommt eine ganze Kehre mit 14%. Ich dachte zunächst mein Fahrrad ist kaputt, weil es auf einmal so schwer geht, bis ich die Steigungsprozente auf meinem Computer und auf der Straße aufgemalt sehe. Nach der Kehre merke ich, dass ich auch gar nicht im kleinsten Gang war…
Am Gasthof, wo ich eingentlich Pause machen wollte fahre ich vorbei, denn mir ist nicht nach Pause, und so beschließe ich Kehre 9 als nächstes Teilziel. Dumm nur, dass nach Kehre 16, ein Kilometer langer Abschnitt ganz ohne Kehren kommt.
Zum Ausgleich kommt dann aber ein Stück, dass auf 4% runter geht. So kann ich nochmal etwas erholen. Und irgendwann erreiche ich tatsächlich den Abzweig zum Umbrailpass, aber selbstverständlich ziehe ich jetzt durch bis zur Passhöhe Stilfser Joch.
Auf der Straße sind Angaben zu den verbleibenden Kilometern aufgemalt. Wenn man erst mal dreiviertel geschafft hat, wirkt das sehr motivierend. Trotzdem sind die letzten Kilometer, meist so um die 10% doch recht hart. Aber Pause mache ich jetzt keine mehr. Und irgendwann ist dann die letzte Kehre erreicht, und dann steht als Restlänge 500 Meter auf der Straße, dann 300 Meter. Wie gut, jetzt weiß ich dass ich es schaffe, auch wenn die letzten Meter nochmal alles abverlangen.
Aber schließlich ist das Passschild erreicht. Was für ein Unterschied zu gestern. Heute ist wieder lebhaftes Treiben, noch heftiger als Anfang Juli. Mir egal, erst mal das Foto unterm Passschild, diesmal von der anderen Seite.
Dann beschließe ich noch die paar hundert Meter bis zur Tibethütte hochzufahren, denn unbefestigte Straße bin ich ja jetzt gewohnt.
Hier hat man einen fantastischen Ausblick, vor allem auch auf die Serpentinen der Nordostrampe!
Auch eine Gruppe Engländer auf Alpenrally, mit Autos, die dem deutschen Tüv die Tränen in die Augen treiben würden, macht hier Station:
Noch einmal gibt es Tee und Kuchen, die Klamotten trocknen etwas, und dann mache ich mich auf die Abfahrt. Dick eingepackt, denn es ist hier in der Höhe von fast 2800 Metern trotz Sonne saukalt. Aber ich fühle mich natürlich fantastisch, die Strecke von Bormio hoch habe ich trotz teils heftigen Gegenwindes gut bewältigt, noch immer ist das Wetter toll und ich freue mich auf die 25 Kilometer Abfahrt.
Einmal halte ich noch zwischendurch an, um die Hände nicht zu kalt werden zu lassen, ansonsten gibt es nur Vollgas. Die Abfahrt mach tierisch Spaß, mittlerweile habe ich auch hier etwas mehr Übung, zu den Langsamen gehöre ich wohl nicht mehr (zu den Schnellen aber bei weitem nicht, aber so viel Schnelle gibt es hier nicht…)
Zwei langsame Autos und zwei langsame Motorradfahrer kann ich überholen, was besonders Spaß macht. Das Fahrrad habe ich ganz gut im Griff, aber mit einem Rahmen der nicht so flattert, könnte man sicher mehr reißen. Anyway, es macht einfach nur saumäßig Spass, so dass auch dieser Tag nach ca. 3200 Höhenmetern seinen gebührend schönen Abschluss findet.